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„Den Unternehmen geht es gut – das ist ein Problem“
Winfried Neun ist Verhaltensökonom, Innovationscoach, Vollblutunternehmer, Investor, Digitalisierungsexperte und Referent unseres Qualifizierungsprogramms für mittelständische Unternehmen ‚Erfolg durch digitalen Wandel‘. Ein Gespräch über altes Denken, junge Digital Natives und die Chancen einer Ökonomie im Umbruch.
MFS: Braucht Deutschlands Mittelstand tatsächlich ein Qualifizierungsprogramm für den digitalen Wandel?
Winfried Neun: Unbedingt. Viele Führungskräfte sind durch den digitalen Wandel extrem überfordert. Sie haben die neuen Perspektiven noch nicht im Fokus, leiden unter Reizüberflutung und finden bei der Vielzahl der Alternativen ihren Weg nicht. In der Folge entscheiden sie nichts oder das Falsche, ihre Unternehmen verpassen den Anschluss an eine umwälzende Entwicklung und werden im Wettbewerb nicht lange bestehen können.
MFS: Nun sind die deutschen Unternehmen weltweit ganz besonders erfolgreich, im internationalen Wettbewerb stehen sie glänzend da.
Winfried Neun: Das stimmt, den Unternehmen geht es gut, das ist ein Problem. Denn sie verstehen nicht, warum sie jetzt etwas verändern sollten. Ihre Produkte sind gut, die Umsätze stimmen, das macht ein bisschen träge. Aber der Wettbewerb ist hellwach – da kommen tolle Neuerungen in rasantem Tempo. Wer jetzt schläft, wacht morgen vielleicht nicht mehr auf.
MFS: Ein Beispiel, bitte.
Winfried Neun: Es geht um smarte Produkte. Nehmen wir die chemische Industrie. Sie verpackt ihre Flüssigkeiten in Dosen, die rein schützenden Charakter haben. Das ist old school. Smart wäre es, wenn ein Chip den Flüssigkeitszustand in der Dose messen würde, so dass professionelle Verarbeiter die Qualität ihrer Produkte im Blick haben und sie rechtzeitig verbrauchen können, bevor sie eintrocknen. Ein Beitrag zum Umweltschutz und zur Ressourcenschonung, den es bereits gibt – wir hatten diese Idee und haben sie umgesetzt. Interessant ist das natürlich für alle Hersteller von Flüssigkeiten, wie die Lebensmittel- und die Pharmaindustrie.
MFS: Wie steht es denn um die Digitalisierung im deutschen Mittelstand?
Winfried Neun: Es gibt zwei Ebenen. Die technologische Verwendung in der Produktion ist gut. Anlagen und Maschinen sind mit den Grunddaten des Unternehmens vernetzt. Was fehlt, ist die professionelle Nutzung von Big Data – also die Identifikation von Kundenwünschen und die dadurch induzierte Entwicklung neuer Produkte, sowie die digitale Verbindung von Logistik und Produktion – die gleicht heute noch der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
MFS: Vernachlässigt der Mittelstand die Möglichkeiten von Big Data?
Winfried Neun: Ja. Big Data ist komplex und die höchste Hürde ist herauszufinden, welche Daten das Unternehmen aus dem Big Data-Pool herauslesen möchte. Die wissen nicht genau, was sie wissen müssen. Die Masse der Datenmengen führt dann ganz schnell zur Resignation.
MFS: Klingt kompliziert.
Winfried Neun: Führungskräfte sind oft erfahren und schon ein bisschen älter. Es fällt ihnen schwer, spontan querzudenken oder dieses überhaupt zuzulassen. Sie müssten Start-Ups gründen oder sich finanziell beteiligen, um mit frischen Ideen zu reüssieren. Da sitzt ein ganzer Pool an Querdenkern, die Big Data-Ansätze für Unternehmen einleiten können. Es ist also keine Fragen der Möglichkeiten, sondern des Wollens.
MFS: Offensein für Neues ist also ein Problem?
Winfried Neun: Ja. Es gibt eine psychologische Hürde sich zu vernetzen, Daten herauszugeben, Open Innovation zu nutzen, Social Media für Marktanalysen einzusetzen. Und es gibt das Problem, dass die Führungskräfte nicht wissen, in welchem Bereich sie aktiv werden müssen, da fehlt es an strategischer Weitsicht.
MFS: Strategische Weitsicht ist doch etwas, was den deutschen Mittelstand auszeichnet.
Winfried Neun: Nein, das stimmt nur für die Vergangenheit. Der Mittelstand hat gute Produkte in Relation zu den schlechten der anderen. Sobald die Anderen ihre Qualität anheben, steht der deutsche Mittelstand schlecht da. Und diese Qualitätsanhebung sehen wir doch bereits im Automobilsektor sowie in vielen anderen Bereichen.
MFS: Und der Weg raus – wie sieht er aus?
Winfried Neun: Meine große Hoffnung ist, dass die Nachfolger im Mittelstand offener und aktiver sind. Ihr Fokus liegt auf dem ‚smarter Wirtschaften‘, also nachhaltig, mit weniger Aufwand, mehrwertstiftend, cleverer – weniger malochen. Das ist ihr Ehrgeiz. Es geht ihnen nicht primär darum nur noch mehr Geld zu verdienen, sondern besonders nachhaltig zu sein.
MFS: Das hört sich bequem an – aber ist es auch ökonomisch sinnvoll?
Winfried Neun: Absolut. Ertrag und Umsatz folgen der guten Strategie. Die Nachfolger nutzen digitale Hilfsmittel, um eigene Produkte voranzubringen. Sie arbeiten intelligenter, das schont Umwelt und Menschen und sichert den langfristigen Erfolg durch Wettbewerbsfähigkeit.
MFS: Ganz konkret – was sind die Anforderungen an digitale Strategien in Vertrieb & Marketing?
Winfried Neun: Zuerst geht es mal darum das riesige Potenzial bei der Analyse der Vertriebsaktivitäten zu nutzen. Der Vertrieb wurde bisher am wenigsten durchleuchtet. Im Marketing geht es um die Analyse des Verbraucherverhaltens.
MFS: Wie könnte das aussehen?
Winfried Neun: Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Nehmen wir einerseits das Regalmanagement in Verbrauchermärkten. Hat eine Verpackung einen Sensor, können wir zählen, wie oft sie in welchem Regal aus der Hand genommen und zur Kasse getragen wird. Regaloptimierung ist das Ziel. Im Krankenhaus lässt sich die Logistik verbessern – also Kosten senken – indem Sensoren am Medikament den Lagerbestand und -ort mit der Verwendungshäufigkeit und -ort abgleichen. Lageroptimierung ist das Ziel, Systempartnerschaften das dazugehörige Stichwort auf Seiten der Industrie.
MFS: Wie gehen digitalisierungswillige Unternehmen am besten vor?
Winfried Neun: Sie prüfen zuerst ihre internen Strukturen hinsichtlich ihrer Digitalisierungsfähigkeit. Das ist ein aufwendiger aber notwendiger Prozess. Erstaunlich oft befindet sich ein Engpass in der F&E-Abteilung. Sie hat die technische Entwicklung im Fokus, aber nicht die Idee, smart zu sein – da wird Digitalisierung oft ausgebremst. Wenn das Digitalisierungspotenzial identifiziert ist, folgt die Analyse: Wo sind die Ansätze, die das Unternehmen weiterbringen. Im Fokus steht die Frage: Welches smarte Produkt kann die internationale Wettbewerbsfähigkeit fördern? Dafür müssen die latenten Bedürfnisse der Käufer erkannt werden, sie sind der Schlüssel.
MFS: Latente Bedürfnisse - ein Ausdruck aus der Psychologie. Gibt es Beispiele?
Winfried Neun: Viele. Etwa das latente Bedürfnis der Ressourcenschonung, indem Lacke und Farben nicht weggeworfen werden müssen. Oder das Einsparen von unnötigen Laufwegen in der Zentralapotheke im Krankenhaus, wo durch Sensoren Bestände gemessen und gemeldet werden. Oder die Vereinfachung von Diagnosen durch elektronische Visualisierungen im Sinne von Augmented Reality.
MFS: Einzelmaßnahme oder Konzept – was ist besser?
Winfried Neun: Einzelmaßnahme – das machen uns die Startups vor. Ein Konzept erfordert Analysen und die kosten viel Zeit und Geld. Startups posten ihre Ideen in den Sozialen Netzwerken und bekommen taggleich Feedback. Sie sind sehr nah an ihrer Zielgruppe, so wie es früher auf Märkten sehr oft der Fall war.
MFS: Wo liegt das größte Risiko der Digitalisierung?
Winfried Neun: Aus der Vielzahlt der Möglichkeiten, die Falsche herauszupicken, sich zu vergaloppieren. Bei der Sortierung der vielen Informationen helfen Experten. Erst danach lohnt es sich, eine eigene Abteilung aufzubauen. Unternehmen brauchen heute eine Digital Management Abteilung – und das ist weder das Marketing noch der Vertrieb, noch die Strategie- oder Innovationsabteilung. Die Digitalisierung beginnt also mit Unterstützung von außen und wächst dann nach innen.
MFS: Entspricht das auch Ihren persönlichen Erfahrungen?
Winfried Neun: Ja – wir haben selbst in der Beratung erkannt, dass Nachhaltigkeit durch digitale Ansätze entstehen kann. So haben wir ein eigenes Online Consulting-Tool K.O.M.-OLC für unsere Kunden als kostengünstige Alternative in der Begleitung von Changeprozessen entwickelt.
MFS: Was ist die dringendste Maßnahme, die Sie Unternehmen empfehlen?
Winfried Neun: Die eigenen Kernkompetenzen zu benennen und genau diese über Digitalisierung noch smarter zu machen. Um den eigenen Markt wirklich zu kennen, muss man die latenten Bedürfnisse wahrnehmen. Märkte sind weniger statisch, als die etablierten Unternehmen wahrnehmen wollen.
MFS: Und was empfehlen Sie Führungskräften im digitalen Wandel?
Winfried Neun: Sie müssen lernen, kurzfristiger zu denken, risikofreudiger zu sein, Open Innovationansätze zu nutzen und Freude an der Veränderung zu haben. Auf die Ideen der jüngeren Leute zu hören, ist oft eine Quelle von Innovation, aber auch kein absoluter Erfolgsgarant.
Alle Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier
Seminartermine:
28– 30. Juni 2017 in Ratingen / FlughafenDüsseldorf
25. – 27. Oktober 2017 in Hohenkammer / Flughafen München
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